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Daniel Speich-Chassé: «Gerade, wenn alles sich ändert, ist Geschichte wichtig»

Daniel Speich-Chassé, Jahrgang 1969, ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Luzern und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Gletscher-Initiative, für die er sich als einer der allerersten Mitstreiter seit 2016 engagiert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Umweltgeschichte.

An der Uno-Klimakonferenz in Glasgow im vergangenen November erreichte Indien in letzter Minute eine Verwässerung des Verhandlungstexts. Indien argumentierte, unterstützt von China, mit der Vergangenheit: Es gebe ein Recht auf nachholende Entwicklung und die reichen Länder stünden in der Pflicht, weil sie eine grössere historische Verantwortung für die Klimakrise trügen. Ist das aus historischer Sicht gerechtfertigt?

Es ist nicht die Aufgabe eines Historikers zu entscheiden, ob eine Verwendung der Erinnerung in der Gegenwart gerechtfertigt ist. Aber das Argument leuchtet ein. Persönlich finde ich es sehr stossend, wenn die Schweiz sich mit anderen Ländern nur aufgrund der Treibhausgasmengen vergleicht, die wir heute produzieren. Die Schweiz gehört zu den am frühesten industrialisierten Ländern und produziert schon viel länger hohe Treibhausgasemissionen als ein Land wie Indien. 

In der Klimadebatte geht es um die Gestaltung der Zukunft. Der indische Schriftsteller Amitav Ghosh schreibt Bücher über Kolonialgeschichte und Klimakrise. Er kritisiert, die Klimadebatte sei geschichtsblind. 

Ich mag dieses Adjektiv nicht, denn entscheidend ist ja nicht, dass man in die Vergangenheit blickt, sondern, wie wir es tut. Und es ist nicht spezifisch für die Klimadebatte: Die meisten öffentlichen Diskurse sind ziemlich «geschichtsblind». Was in der Klimadebatte jedoch speziell ist: Die Vergangenheit ist immer präsent, da zum Beispiel heutige mit früheren CO2-Konzentrationen oder Temperaturen verglichen werden. Aber das geschieht nur mit dem naturwissenschaftlichen Blick. 

Könnte ein historisches Bewusstsein zur Bewältigung der Klimakrise beitragen?

Da bin ich zurückhaltend. Die Umweltbewegung hat ja auch eine problematische Geschichte. Während eines grossen Teils des 20. Jahrhunderts war die Umwelt- respektive Naturschutzbewegung nationalkonservativ geprägt. Wenn man überzeugt ist, dass sich die Klimakrise nur mit Verhaltensänderungen bewältigen lässt, dann ist das mit Wohlstandseinbussen verbunden, die nicht dem Willen der einzelnen Individuen entsprechen, aber dieser Wille ist in Demokratien zentral. Das finde ich recht angsteinflössend: Ich wäre auf keinen Fall bereit, auf demokratische Entscheide zu verzichten.

Angenommen es würden auch globale Entscheidungen demokratisch gefällt und alle Menschen hätten gleich viel Mitsprache: Wäre es nicht ein Schritt in die richtige Richtung, wenn die Stimmen marginalisierter Menschen, die die Klimakrise ganz anders erfahren, mehr Gewicht hätten?

Ich habe kürzlich den Film über Bruno Manser gesehen. Da erfuhr ich, dass die Penan auf Borneo durchaus einen selbstbestimmten Umgang mit der Modernisierung gefunden haben. Die Erklärung der Rechte der indigenen Völker der Vereinten Nationen wäre eine Basis für eine Kolonialismuskritik. Aber wir können nicht alle wie die Penan leben: Dafür gibt es zu viele Menschen auf der Welt. 

Wichtige Stimmen der Klimabewegung fordern, Dekarbonisierung und Dekolonisierung zusammenzudenken. 

Auch da bin ich vorsichtig. Die Argumentation «Europa hat die Welt kaputt gemacht und muss nun dafür zahlen» wird der Komplexität der Geschichte nicht gerecht. Da argumentiere ich lieber damit, wie viele Treibhausgase welche Länder in der Geschichte insgesamt schon ausgestossen haben.

Schweizerische Lokomotiv- und Maschinen-Fabrik S.L.M. in Winterthur (Sulzer-Areal) um 1900

Amitav Ghosh sieht im modernen europäischen Denken eine Ursache unserer Krise: Dieses Denken, das zu der Zeit entstand, als Europa begann, Kolonien zu erobern, habe die Natur zu einem seelenlosen Objekt gemacht, das man ausbeuten könne. 

Wer so argumentiert, bestätigt nolens volens die eurozentrische Sicht, die den Einfluss Europas auf die Welt überschätzt. Darum nervt es mich, wenn indische Intellektuelle so argumentieren. Und die Denkweise, die die Natur als belebt betrachtet, ist ja auch aus Europa nie verschwunden – wie die Romantik oder die Lebensreformbewegung zeigen. Ich glaube, dieses Wissen haben doch alle Menschen: dass es Dinge gibt, die wir nicht verstehen. Wenn ich einen Baum betrachte, so weiss ich, dass er aus Zellen besteht. Aber wie weiss die Zelle in jenem Ast links oben, was sie tun muss? Dass wir das nicht wissen, führt zu einer Haltung der Demut gegenüber Mitgeschöpfen, wenn man es sich eingesteht.

Aber es dominiert ein wissenschaftlicher Diskurs, der die Mitwelt objektiviert. 

Ja, und die Systemlogik der Wissenschaften geht in Richtung weiterer Objektivierung und Zerstückelung. Wenn man etwa die Umweltwissenschaften an der ETH betrachtet: Dieser Studiengang wurde in den 1980er Jahren von engagierten Leuten aufgebaut, die schockiert waren vom Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums und eine vernetzte Sichtweise anstrebten. In den letzten Jahren wurde fast alles abgebaut, was integrativ war, und es zählen auch da in erster Linie einzelwissenschaftliche Publikationen.

Du hast vorhin gesagt, es brauche eine Demut, sich einzugestehen, dass wir vieles nicht verstünden. Aber wir wissen doch längst genug, um der Klimakrise zu begegnen, und doch passiert wenig …

Um nicht allzu pessimistisch zu sein: Dass heute grosse Unternehmen darüber nachdenken, was ihre Investitionen bewirken, und sich immer mehr aus klimaschädigenden Investitionen zurückziehen, finde ich eine grossartige Entwicklung. Und ich glaube, das Zeitalter des Erdöls geht tatsächlich vorbei. Aber es stimmt, wir wissen genug und handeln doch nicht so, wie wir wissen, handeln zu müssen. Der Kinofilm Don’t Look Up trifft das ziemlich gut … Das treibt mich um, aber ich weiss keine Antwort. 

Im IPCC-Bericht von 2018 – dem 1,5-Grad-Spezialbericht – steht, es brauche «Systemübergänge in einem Ausmass, wie es sie noch nie gegeben hat». Was kannst du als Historiker mit dieser Formulierung anfangen?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Wenn ich «System» höre, habe ich sehr viel Theorie im Kopf, den ganzen Niklas Luhmann … und es ist schwierig, mit dem Begriff zu arbeiten: Nur schon über die Abgrenzungsfragen – wo beginnt ein System, wo hört es auf – kann man unendlich diskutieren. 

Um es bescheidener zu nehmen: Vielleicht sollten wir zunächst einfach Systeme als Systeme wahrnehmen. Also zum Beispiel nicht nur die Antriebstechnik von Autos, sondern das ganze System des Automobilismus in den Blick nehmen?

Das Auto ist ein gutes Beispiel. denn es hängt mit so vielem zusammen: mit anderen Techniken, Infrastrukturen, kulturellen Praktiken … Der Systembegriff ist ein wichtiger Gegenpol zum Glauben, es lasse sich alles auf individuelle Entscheidungen zurückführen. 

Woraus dann der Appell an die «Eigenverantwortung» resultiert …

Es ist der Glaube, man könne Entscheidungsfragen als Marktmechanismen modellieren.

Du hast über die Geschichte des Bruttosozialprodukts (BSP) habilitiert. Auch da geht es um eine Art und Weise, die Welt zu betrachten. 

Die Fixierung der Politik auf das BSP erklärt meiner Meinung nach viel mehr, als wenn man von europäischen und nichteuropäischen Denkweisen spricht. Die Idee, dass es «die Wirtschaft» gibt, nebst der Politik und der Kultur, ist absurd. Wer von «der Wirtschaft» spricht, meint meistens Unternehmen und ihre Interessenvertreter, und wer vom Sozialprodukt von Staaten spricht, betrachtet die Staaten als Unternehmen und das BSP als ihren Umsatz – während das Vermögen keine Rolle spielt. Dieser Umsatz steigt aber auch, wenn Dinge kaputt gehen: So hat der Hurrikan Katrina das BSP der USA 2005 um fünf Prozent wachsen lassen. 

Hat das einen ursächlichen Zusammenhang mit den Umweltkrisen?

Auf jeden Fall. In dieser Betrachtungsweise ist gut, was das BSP wachsen lässt; Umweltkosten sind sekundär. Dagegen lässt sich fast nicht ankämpfen: Ein Politiker, der sich nicht für Wirtschaftswachstum ausspricht, hat keine lange Karriere. 

Du bist 52 Jahre alt. Die Zusammensetzung der Atmosphäre hat sich in deiner Lebenszeit stärker verändert als von Beginn der menschlichen Zivilisation bis zu deiner Geburt. Wird historische Erfahrung wertlos, wenn wir in Bereiche vordringen, wo die Menschheit noch nie war?

Als Historiker will ich zeigen, dass die Vergangenheit nicht so war, wie wir meinen. Ich will den Glauben aufbrechen, dass wir wissen, wie die Welt funktioniert. Insofern befinden wir uns immer in Bereiche, wo wir noch nie waren. Allerdings sind die jetzigen Umweltveränderungen sehr dramatisch. Aber gerade, wenn alles sich ändert, ist Geschichte wichtig!

Du warst 2016 einer der allerersten Mitstreiter der Gletscher-Initiative. Warum engagierst du dich?

Mich hat vor allem angesprochen, wie du das zu Beginn genannt hast: «Paris ernst nehmen». In Paris wurde 2015 ein Abkommen ausgehandelt, um die Erwärmung zu stoppen. In den sechs Jahre seither ist fast nichts passiert. Wir haben in der Schweiz ein geniales politisches System und die Möglichkeit, mit einer Volksinitiative etwas zu verändern. Und unsere sehr privilegierte Situation verpflichtet uns, mehr zu tun als andere.

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