Architekt:innen gestalten die Umwelt für Jahrzehnte, gar Jahrhunderte. Wie gehst du mit deiner Verantwortung für die Zukunft um in einer Zeit, in der die Zukunft sehr ungewiss ist?
Ich stelle mir die Frage nach der Zukunft ständig. Es gibt viele Szenarien, die Prognosen erstellen, wie sich gewisse Parameter entwickeln werden – Bevölkerung, Wirtschaft, Energiebedarf und so weiter. Wir nehmen diese Szenarien zur Kenntnis. Aber sie sind nur die eine Seite: Sie zeigen, was aus heutiger Sicht zu erwarten ist. Die andere Seite ist: Was wollen wir für eine Zukunft? Das ist der Teil der Gestaltung. Wir arbeiten in diesem Spannungsfeld zwischen dem Erwartbaren und dem Gestaltungswillen.
Die klassische Moderne hatte einen enormen Gestaltungswillen. Sie wollte die Gesellschaft formen. Aus heutiger, ökologisch bewusster Sicht ging das oft genau in die falsche Richtung; das Auto war das Mass aller Dinge im Städtebau. Soll man heute versuchen, die Gesellschaft ebenso zu gestalten, wie es die Modernen wollten – einfach in eine andere Richtung? Oder ist schon dieser Anspruch vermessen?
Der Fortschrittsglaube der Moderne ist vermessen. Das führt zu Nebeneffekten, die man nicht vorhergesehen hat und die die Moderne selbst in ihren Grundfesten erschüttern. Etwa, dass Wachstum und Globalisierung zwar mehr Wohlstand bringen, aber auch höhere Umweltbelastungen verursachen. Heute gibt uns die Klimakrise eine besondere Verantwortung. Wir brauchen eine vielstimmige Antwort auf diese Krise: Es gibt nicht die eine richtige Lösung. Manche glauben an Hightech-Lösungen, andere lösen Probleme lieber lowtech. Es braucht wohl beides und wir müssen die Klimakrise von den verschiedenen Ansätzen her angehen.
Die Verantwortung durch die Klimakrise ist eine zusätzliche Belastung, wenn du architektonisch planst …
… nicht nur! Wir können auch sagen: Die Welt war noch nie so gestaltbar wie heute! Das Klima verändert sich, die Landschaft wird sich verändern. Beispielsweise wird die Schweiz ein Problem mit der Wasserspeicherung haben, wenn ein Grossteil der Gletscher verschwunden ist. Dann brauchen wir künstliche Speicherseen. Es mag etwas zynisch klingen, aber: Diese grossen Veränderungen bergen auch Chancen! Und man kann ja gar nicht nicht gestalten. Unsere Umwelt ist bereits vollkommen überformt; alles ist Konsequenz menschlicher Entscheide. Selbst wenn man in einem Gebiet die Natur sich selbst überlässt, ist das ein bewusster Entscheid. Man kann sich diesem Umstand nicht entziehen.
Wenn du «wir» sagst: Wen meinst du? Denken alle Architekt:innen so, oder bist du mit deinem ökologischen Bewusstsein eher noch eine Exotin?
Mit «wir» meine ich die Leute, mit denen ich an der ETH und in meinem Architekturbüro zusammenarbeite; meine Studentinnen und Studenten. Aber nein, eine Exotin bin ich gewiss nicht.
Aber es wird noch sehr viel sehr unökologisch gebaut.
Ja, in der Bauwirtschaft ist dieses Bewusstsein noch kaum angekommen. Da fühlen wir uns oft vor den Kopf gestossen. Natürlich steht das Wort «Nachhaltigkeit» heute ganz gross in allen Ausschreibungen, aber in der Praxis kommt das dann oft sehr verkürzt an. Da heisst es dann zum Beispiel: Wir bauen jetzt mit Holz, das ist nachhaltig! Aber je nachdem, wie man mit Holz baut, hat es sogar die schlechtere Ökobilanz als Beton.
Wenn du es besser machen willst: Folgen dir deine Auftraggeber:innen?
Ein Beispiel: Ein Gebäude soll abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden. Wir versuchen, wenigstens eine alte Tiefgarage zu erhalten, denn der Tiefbau braucht viel Beton und ist deshalb sehr klimaschädlich. Da machen die Auftraggeber dann oft schon nicht mehr mit und es gewinnt ein Projekt den Wettbewerb, das alles von Grund auf neu macht. Ich frage mich bei den institutionellen Bauträgern oft: Was haben die für Berater, dass die das nicht verstehen?
Da bist du als Architektin auch Aufklärerin?
Ich versuche, diese Rolle wahrzunehmen, wenn wir einen Auftrag übernehmen. Und da erlebe ich seitens der Bauträger zu Beginn noch eine grosse Offenheit. Aber am Ende scheitern dann eben doch viele Projekte, weil sie «zu radikal» sind.
Müsste man nicht noch «radikaler» sein? Darf man überhaupt noch abreissen und neu bauen? Der Climate Action Plan des Klimastreiks verlangt ein Neubau-Moratorium und der renommierte Pritzker-Preis ging 2021 an das Büro Lacaton Vassal, das dafür bekannt ist, wenn möglich nicht neu zu bauen.
Die Idee eines Neubaumoratoriums ist ein Privileg der reichen westlichen Welt. Weltweit geht das nicht, es braucht neue Wohnungen, Quartiere ud Strassen für Milliarden Menschen. Aber tatsächlich bauen wir bei uns in der Schweiz viel zu viel neu. Der Bestand hätte ein enormes Potenzial.
Der Bestand wurde für Bedürfnisse und mit Möglichkeiten gebaut, die überholt sind. Viele unserer Siedlungen sind auf einen Lebensstil angelegt, der auf billigem Erdöl basiert. Kann man diesen Bestand überhaupt klimaverträglich umnutzen?
Das ist eine grosse Frage. Ich bin überzeugt, dass Städte eine Resilienz [Fähigkeit, mit Krisen umzugehen] haben, die das erlaubt. Die Grundbedürfnisse der Menschen verändern sich ja nicht vollkommen. Wir leben noch heute gut in mittelalterlichen Städten, die wir unseren Bedürfnissen angepasst haben. Aber es gibt oft rechtliche Hürden. Im Grossraum Zürich Zürich sind 500.000 Quadratmeter Büroflächen frei. Gleichzeitig brauchen wir mehr Wohnungen. Man könnte die Büros in Wohnungen umbauen! Aber das lassen die Bau- und Zonenordnungen oft nicht zu. – Deine Frage stellt sich aber auf dem Land viel akuter als in der Stadt.
Also zum Beispiel in einer Einfamilienhaussiedlung, fünfzig Kilometer von den Arbeitsplätze entfernt, wohin alle mit dem Auto pendeln …
Man kann solche Siedlungen natürlich nicht einfach wegräumen, aber sie dürfen sich sicher nicht weiter ausdehnen. Diese Siedlungen sind entstanden aus dem Wunsch, ins «Grüne» blicken zu können und einen direkten Ausgang in den Garten zu haben, wo man den Wechsel der Jahreszeiten spürt …
… also im Grunde ein sehr «grüner» Traum!
Ja, aber einer, der überhaupt nicht klimaverträglich ist! Darum müssen wir uns fragen: Wie können wir verdichtete Siedlungen bauen, die solche Möglichkeiten bieten, damit mehr Leute so wohnen können? Und diesen Wunsch kann man auch in der Stadt erfüllen. Lieber nicht so wie mit dem Bosco verticale von Stefano Boeri in Mailand, diesen Hightech-Hochhäusern mit viel künstlich bewässertem Grün an der Fassade: Das ist nicht ökologisch. Aber man kann auch in der Stadt mit Bäumen bauen. Ich wohne in einem alten Baumbestand und kann aus dem Fenster den Eichhörnchen zuschauen – mitten in Zürich!
Wo liegen die größten Herausforderungen beim klimaneutralen Bauen?
Bei den Menschen und bei der Ökonomie. Für den einzelnen Bauherrn rechnet sich klimaneutrales Bauen unter den geltenden Rahmenbedingungen nicht. Die Schweiz produziert im internationalen Vergleich beispielsweise extrem viele Bauabfälle. Nach einem Rückbau wird viel zu wenig wiederverwertet. Aber es gäbe bei jedem Abbruch eines Gebäudes viele Bauteile, die sich wiederverwenden liessen. Es ist verrückt, das alles wegzuwerfen! Diese Bauteile auszusortieren, würde den Rückbau jedoch verteuern. Auch die Lagerung der Bauteile kostet viel, darum tut man das nicht. Man müsste aber auch schon anders bauen, damit man wiederverwenden könnte: Nicht kleben, sondern schrauben, damit sich alles wieder auseinandernehmen lässt.
Man wüsste also, wie es ginge?
Ja. Es wäre möglich.
Pioniere bauten schon in den 1980er Jahren Gebäude, die im Betrieb kaum Energie benötigen. Ich habe den Eindruck, dass man heute viel weiter sein müsste, wenn man diese Pioniere ernst genommen hätte.
Diese Wahrnehmung ist richtig. Als ich in den 1990er Jahren studierte, fragten wir nicht nach Ressourcen. Dabei ist das Wissen für die Knappheit der Ressourcen und für ökologisches Bauen eigentlich schon lange da. In meinem Studium ging es um Architektur als eine kulturelle Praxis. Ich sehe mich immer noch in dieser Tradition, aber wir versuchen heute, den Fokus zu öffnen. Themen meiner Studios sind etwa «Einfach bauen» oder «Die vier Elemente». Wir versuchen, Wissen über elementare Dinge wiederzufinden: Wie baut man mit der Sonne, dem Wind?
In der politischen Umweltdebatte ist sehr von technischen Innovationen die Rede, die es brauche. Du sprichst jetzt nicht von Innovation, sondern von altem Wissen.
«Innovation» ist ein schwieriges Wort. Es ist eng an den Fortschrittsglauben gekoppelt. Ich frage, ob man Komfort reduzieren könnte, ohne schlechter zu leben. Müssen wir wirklich in jedem Raum eines Gebäudes die gleiche Temperatur haben und zu jeder Jahreszeit die selben Kleider tragen können? Ein Pullover im Winter könnte viele Ressourcen ersparen.
Gibt es die Bereitschaft denn, diesen Pullover zu tragen?
Das ist eine meiner Forschungsfragen. Wir beabsichtigen, ein Bürohaus aus den 1960er Jahren in ein Wohnhaus umzubauen. Es ist schlecht isoliert. Mein Vorschlag ist nun, dass wir das nicht isolieren, sondern so genannte thermisch aktive Bauteile einsetzen, die Wärme abstrahlen. In einem solchen Gebäude ist es nicht überall gleich warm. Man kann zum Beispiel die Temperatur dadurch regulieren, wie nah man an ein solches Bauteil heranrückt. Nun wollen wir erforschen, ob die Bewohnerinnen und Bewohner das akzeptieren.
Nicht isolieren, sagst du – da müssen einem Vertreter des Bauens nach Minergie-Normen die Haare zu Berge stehen …
Ich glaube, das ist gar nicht so weit von einem Ansatz wie Minergie entfernt. Wir versuchen ja auch, den Energiebedarf zu reduzieren. Aber es steckt eben extrem viel Energie in den schlechten Dämmmaterialien drin. Wenn man die Energie zum Heizen eines Gebäudes CO2-frei gewinnen kann, während das Dämmmaterial aus Erdöl hergestellt ist, dann ist es besser, weniger zu dämmen und dafür etwas mehr saubere Energie zu verwenden. Wir haben heute zum Beispiel ein Problem mit Mehrfachglas-Fenstern. In diesen Fenstern ist ein Gas, das nach zwanzig Jahren entwichen ist. Einfachverglasung plus ein Vorhang wäre da die sparsamere Lösung. Aber wie gesagt: Da braucht es noch viel Überzeugungsarbeit. Vielleicht erweist sich meine Lösungsidee als zu einfach.
Wenn du baust, hast du immer einen konkreten Ort und ein konkretes Gebäude im Blick. Wenn wir aber global denken, entstehen Städte für Milliarden Menschen. Was lokal eine tolle Lösung ist, taugt im globalen Massstab vielleicht nichts.
Es wäre mein Wunsch, dass es Lösungen gäbe, die transferierbar sind. Ich glaube an Technologietransfer, und die Schweiz kann da eine Vorreiterrolle spielen. Aber die Idee, alles zur globalen Lösung skalieren zu wollen, muss man auch hinterfragen. Man muss alles an die örtlichen Verhältnisse anpassen. Die Lösungen, die sich durchsetzen, werden konstruktiv einfach und vielleicht sogar lowtech sein.
Technologietransfer stellt man sich meistens so vor, dass reiche Länder im Norden etwas entwickeln und arme Länder im Süden übernehmen. Gibt es auch einen Technologietransfer in die andere Richtung?
Auf jeden Fall! Ein extrem faszinierendes Beispiel finde ich die Badgir, persische «Windfänger»: Türme, die durch eine ausgeklügelte Technik Luftströme auslösen, die den Innenraum kühlen. Das ist eine sehr alte Technik. Dagegen lernen wir in Zürich gerade erst, mit der Hitze in der Stadt und in den Innenräumen umzugehen. Das Thema der Stadtkühlung ist sehr aktuell. Hitzeinseln durch die totale Versiegelung der Böden gilt es zu vermeiden – in der Zürcher Europaallee beispielsweise hat man das sehr schlecht gemacht: Der Asphalt wird im Sommer enorm heiß, die Aussentemperatur steigt an und die Häuser müssen noch stärker künstlich klimatisiert werden. Hier wäre eine Entsiegelung sinnvoll. Wasser und Verdunstung könnten für zusätzliche Kühlung sorgen. Und mittels den Badgir-Türmen könnten die Innenräume moderat gekühlt werden. – Allerdings gelten heute die Badgir im Iran sehr wenig, man erachtet sie als rückständige Technik. Klimaanlagen sind leider auch ein Mittel der sozialen Distinktion. Wenn wir diese Technik übernähmen, könnte sie vielleicht auch wieder zurück gelangen – dann würde sich ein Kreis des Technologietransfers schliessen.