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Wilfried Haeberli: «Wir müssen uns Handlungsoptionen erhalten»

Das Schwinden der Gletscher ist ein Warnsignal, sagt Wilfried Haeberli. Der Gletscherforscher, geboren 1947, ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats und des Initiativkomitees der Gletscher-Initiative. Im Interview mit Marcel Hänggi spricht der emeritierte Professor für Geografie der Universität Zürich über seine Liebe zu den Gletschern und sein politisches Engagement.

Was brachte dich als jungen Mann zur Glaziologie? 

Damals ging ich viel bergsteigen, war von den eisigen Gipfeln fasziniert und wollte meine Doktorarbeit als Geograf oberhalb der Waldgrenze machen. Ich wählte das Thema Permafrost in den Alpen, also ganzjährig und tief gefrorene Bergflanken. Das war zu dieser Zeit noch ein kaum erforschtes Feld. Nach der Diss arbeitete ich über zwanzig Jahre an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie, einem Ingenieursinstitut der ETH. Es ging dabei oft um Hochwasser- und Murgangschutz im Zusammenhang mit Gletscherseen und Starkniederschlägen, etwa nach den Murgangkatastrophen von Poschiavo und Münster/VS 1987. Von 1983 bis 2010 war ich für die Koordination der weltweiten Gletscherbeobachtung verantwortlich.

Du hättest wohl nicht gedacht, dass du zum Sterbebegleiter deines Forschungsgegenstands werden wirst?

Doch, das war mir schon früh bewusst. Bereits in den 1970-er Jahren berechnete Hans Oeschger mit seinem Team an der Universität Bern, dass die globale Temperatur bei einer Verdoppelung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre um etwa 3 Grad steigen würde. Es war leicht abzuschätzen, dass dabei von den Alpengletschern nur bescheidene Resten übrigbleiben würden. Bereits damals existierte das Wissen und die sich abzeichnende Kurve der Klimaveränderung hätte bei sinnvollem Verhalten einigermassen elegant genommen werden können. Was wir jedoch noch nicht berücksichtigten, war, dass die Temperatur im Alpenraum etwa doppelt so schnell steigt wie im globalen Mittel.

1990 war ich mit deinem Vorgänger an der Uni auf einer Gletscher-Exkursion. Wir lernten, dass die Gletscher im 19. Jahrhundert ihr letztes Maximum erreicht haben und sich seither zurückziehen – als Resultat natürlicher Klimaschwankungen. Von der anthropogenen Klimaerwärmung war da, wenn ich mich recht erinnere, noch nicht die Rede.

Bis in die 1990er Jahre befanden wir uns noch im natürlichen Schwankungsbereich des Holozäns – also der vor-industriellen Epoche, in der die moderne Zivilisation entstanden ist. Unterdessen haben wir diesen Bereich verlassen. Das wird oft verkannt, weil die Gletscher verzögert reagieren – sie sind heute zu gross für die rasch steigenden Temperaturen. Der Aletschgletscher beispielsweise ist heute mehrere Kilometer zu lang für das jetzige Klima. Der Gletscherschwund wird also weitergehen, selbst wenn die Temperaturen nun stabil blieben. Wenn wir die Zusammensetzung der Atmosphäre anschauen, haben wir den natürlichen Schwankungsbereich sogar mindestens der letzten Million Jahre längst verlassen. Es ist die bereits stark vorgegebene Entwicklung der Zukunft, die uns Sorge bereitet.

«Wenn wir die Zusammensetzung der Atmosphäre anschauen, haben wir den natürlichen Schwankungsbereich sogar mindestens der letzten Million Jahre längst verlassen. Es ist die bereits stark vorgegebene Entwicklung der Zukunft, die uns Sorge bereitet.»

Du wusstest also früh über die Klimaerwärmung Bescheid und hast dich dazu auch geäussert. Hast du Gegenwind erlebt?

Medien und Öffentlichkeit haben die Information durchaus gut aufgenommen. Es gab aber auch Versuche, warnende Stimmen zu disqualifizieren. Zwar hat niemand unsere Messungen und Berechnungen angezweifelt, aber es hiess, sie seien «Panikmache». Das hat sich in den letzten Jahren völlig geändert. Heute wissen alle, dass die Gletscher schwinden und der Permafrost auftaut, der Hitzesommer 2003 und der Bergsturz und Murgang von Bondo haben vielen die Augen geöffnet.

Bildvergleiche des Morteratschgletschers (Kt. GR) von 1911-2015 belegen eindrücklich dessen Schwund. Bildquelle: Sammlung Gesellschaft für ökologische Forschung.

Was heisst das für das Hochgebirge? Wird es in Zukunft grün statt weiss?

Die schwindenden Gletscher hinterlassen für lange Zeit keine grünen Wiesen und Wälder, sondern Schutt, Seen und nackten, oft instabilen Fels – so etwas wie eine grosse, unaufgeräumte und durchaus auch gefährliche Baustelle. Die Forschung beschäftigt sich heute auch mit der Frage, wie wir mit diesen Herausforderungen, beispielsweise mit den neuen Seen, umgehen sollten.

Wie genau kann man das Abschmelzen der Gletscher vorhersagen?

Es gibt schon lange realistische Zahlen. Gerade Matthias Huss, der ja auch Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Gletscher-Initiative ist, hat für die Alpen detaillierte und robuste Modellresultate publiziert. Wenn wir das Pariser Abkommen einhalten und die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen – das heisst für die Alpen: 3 Grad –, dann könnten wohl etwa knapp 40 Prozent des verbleibenden Gletschervolumens in den Alpen überleben. Die grossen Unsicherheiten liegen in der Frage, wie sich die Emissionen weiter entwickeln, was klimapolitisch geschieht oder unterbleibt. Bei realistischen Emissionsszenarien verbleiben nur etwa 5 bis 30 Prozent des heutigen bereits stark reduzierten Gletschervolumens.

Auch am Steingletscher (Kt. BE) sind die Auswirkungen der steigenden Temperaturen deutlich zu erkennen. Bildquelle: Sammlung Gesellschaft für ökologische Forschung.

Du verwendest in diesem Zusammenhang gern das schöne Wort «Menetekel» …

Das (Ver-)Schwinden der Gletscher ist für uns tatsächlich eine ernst zu nehmende «Schrift an der Wand» wie das Menetekel in der Bibel. Die Gletscher zeigen uns: Das globale Klimasystem verändert sich schnell, unser Spielraum wird enger und wir verlieren Handlungsoptionen. Ein eindrückliches Beispiel ist der Meeresspiegel, der nach Modellrechnungen langfristig etwa um ein bis zwei Meter pro Grad globaler Erwärmung ansteigt. Heute haben wir bereits ein Grad Erwärmung. Selbst im Fall zügiger Massnahmen für den Klimaschutz wird der Meeresspiegel  über die kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte um mindestens einen Meter ansteigen. Es könnte aber auch viel mehr sein, wenn wir einfach so weitermachen wie bisher. Anpassungsmassnahmen würden dann extrem schwierig und teuer. 

«Die Gletscher zeigen uns: Das globale Klimasystem verändert sich schnell, unser Spielraum wird enger und wir verlieren Handlungsoptionen.»

Was hat dich bewogen, dich politisch zu engagieren?

Als Wissenschaftler versuche ich, möglichst objektiv Grundlagen für politische Entscheide zu liefern. Aber ich bin auch Staatsbürger, ich stimme ab, ich nehme Partei. Und weil ich in meiner Arbeit als Wissenschaftler sehe, was bei Gletschern und dem Klima auf uns zukommt, setze ich mich als Bürger hier besonders ein und leiste meinen bescheidenen Beitrag. 

Ende September hat das Parlament ein neues CO2-Gesetz beschlossen. Beruhigt es dich, dass etwas geht? 

Ich habe zwiespältige Gefühle. Das Gesetz ist ein Schritt vorwärts. Es wäre fatal, wenn es scheiterte, denn dann hätten wir einen Rückschritt. Aber es ist eindeutig zu schwach. Darum müssen wir weitermachen!